Armut galt im 19. Jahrhundert als weitgehend selbstverschuldet, verursacht durch Faulheit und Bequemlichkeit. Erziehung zur Arbeit sollte dagegen Abhilfe schaffen. Vor diesem Hintergrund errichtete Graubünden 1840 die Arbeitsanstalt Fürstenau für «liederliche» und «arbeitsscheue» Arme. Anders als beim strafrechtlichen Freiheitsentzug wies man die Menschen nicht in erster Linie wegen einer Straftat ein, sondern wegen ihrer Lebensführung, ihrer Gesinnung und ihres Charakters.
Solche Einweisungen in Arbeitsanstalten, die als «administrative Versorgungen» bezeichnet wurden, praktizierte man in der Schweiz bis in die 1970er-Jahre. Sie waren Ausdruck einer repressiven Sozialpolitik. Betroffen waren bis zum Schluss meist Menschen aus schwierigen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen. In knappen Verfahren beschlossen Laienbehörden zum Teil jahrelange Einschliessungen.
Bis ins 19. Jahrhundert war der Grat zwischen einem einfachen Leben und existentieller Not für weite Kreise der Bevölkerung schmal. Berichte zeigen für Graubünden bis Mitte des 19. Jahrhunderts ein Bild von zum Teil extremen Notsituationen. Zu einer lebensbedrohlichen Krise kam es im Jahr ohne Sommer 1816. Klimaverschlechterung und Missernten führten zur letzten grossen Hungersnot. Mit Suppen- und Polentaküchen versuchte man, die Menschen am Leben zu erhalten. Nicht alle waren solidarisch. Es gab gutsituierte Familien, die Essensvorräte in der Erde oder unter Steinhaufen vergruben.
Fürsorge leisteten vor allem die Kirche und gemeinnützige Kreise. Verstärkt wurden die Gemeinden in die Pflicht genommen. Frühe Bündner Armenordnungen von 1803 und 1839 wiesen sie an, Bedürftige zu unterstützen. Doch die Ressourcen waren knapp, die Fürsorge bescheiden und mit Einschränkungen verbunden.[87]
Auch viele Mitglieder der Familie Köhl kamen aufgrund der wirtschaftlichen Lage, von Unfällen, Krankheiten oder bedingt durch den frühen Verlust des Familienvaters oder der -mutter in Not. Manchmal konnten Grosseltern verwaiste Enkelkinder aufnehmen, oder Geschwister nahmen betroffene Kinder zu sich auf. Wenn diese Auffangnetze nicht verfügbar waren oder zu Klagen führten griffen die Behörden der Stadt Chur ein. Wenn kein Geld vorhanden war dies die Armenkommission, andernfalls die Vormundschaftsbehörde. Diese verfügten zuständige Vögte, entschieden über Einweisungen in eines der Armen- oder Waisenhäuser oder platzierten die Kinder bei Bauern oder Pflegefamilien. In der Regel wurden dann vorhandene Vermögenswerte gepfändet oder einem Vogt unterstellt. Auch gab es kirchliche Organisationen welche die Not linderten, oder private, gemeinnützige Vereine wie der «Hülfs-Verein für arme Knaben».
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Quellen:
87: Fürsorgerische Zwangsmassnahmen in Graubünden, Rätisches Museum, 2020, Rätisches Museum, Rätisches Museum,
Begleitbroschüre zur Ausstellung "Fürsorgerische Zwangsmassnahmen in Graubünden", Rätisches Museum
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